Ich gehöre ja arbeitswegstechnisch gesehen eher zu den Privilegierten. Als Freiberufler ist mein Arbeitsweg ausgesprochen kurz: Vom Frühstückstisch in der Küche bis an meinem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer sind es mal gerade drei Meter.
Das ist Luxus pur, wurde mir vor einigen Tagen bewusst. Ich hatte einen Termin tatsächlich um 9.00 Uhr und den auch noch am anderen Ende der Stadt. Auto fahren schloss ich aus, ich kann aus meinem Fenster im Arbeitszimmer die stehende Kolonne an Autos sehen. Kein Mensch kann voraussehen, welche Baustellen heute Morgen neu eingerichtet wurden. Nein, ich wollte an diesem Morgen den öffentlichen Nahverkehr benutzen. Jeden Tag mindestens eine gute Tat, heute sollte es der Umweltschutz sein.
Die erste Erkenntnis gewann ich bereits, als ich die Treppen zum U-Bahnsteig hinab ging: Es sind verdammt viele Leute um diese Zeit unterwegs! Na macht nichts, der nächste Bahnhof ist ein Umsteigebahnhof, da werden schon etliche aussteigen. Ich lag völlig richtig mit dieser Annahme, blendete aber total aus, dass Umsteigebahnhof heißt, es steigen auch viele wieder ein.
Direkt neben der Tür stand eine gut gekleidete und gut frisierte Mitfünfzigerin. Sicher hat sie sich ihre Fahrt etwas bequemer, etwas eleganter vorgestellt. Je mehr Menschen in die Bahn drängten, um so hektischer wurde ihre Schnappatmung. Ich legte mir vorsorglich schon einmal einen Notfallplan zur Rettung dieser Dame zurecht, falls sie einen Kollaps bekommen sollte. Immerhin müsste ich von der einen Seite der Bahn quer durch die dicht gedrängten Massen auf die andere Seite kommen. Mich einfach von dem drohenden Unheil abzuwenden, ist nicht Teil meiner ethischen Ausstattung, ich hätte einfach helfen müssen. Also überlegte ich, welchen Fahrgast ich in welche Richtung schleudern müsste, um mir eine Gasse freizukämpfen und schnellstens an den Ort des zu erwartenden Unglücks zu gelangen. Die jungen Leute, die in ihre Smartphones vertieft waren, hätte ich durch den Überraschungseffekt leicht überwinden können. Schwieriger wäre es mit dem Mann direkt vor mir geworden. Zwar war er einen ganzen Kopf kleiner als ich, und schmächtiger war er auch, aber er kämpfte selbst. Mit seiner Zeitung. Und dass mit aller Verbissenheit.
Ich hätte nicht geglaubt, dass es noch Zeitungsleser in der U-Bahn gibt. Früher, als die U-Bahn noch ein richtig bequemes Fortbewegungsmittel war, man genügend Platz zum Sitzen hatte und die Wagen dennoch so breit waren, dass die Reisenden, die in der Mitte in Zweierreihe standen und trotzdem keinen Körperkontakt zum sitzenden Fahrgast hatten, ja damals war Mitlesen noch eine gängige Sportart. Der Wagen war voller Zeitungsleser, um Geld zu sparen, brauchte man sich nur neben einem dieser lesenden Zeitgenossen zu setzen und mitzulesen. Die Schwierigkeit bestand eigentlich nur darin, einen Platz neben der Zeitung zu finden, die man (mit)lesen wollte und den Menschen zu finden, der die Rubrik las, die einem selbst interessierte.
Vom Alter her passte dieser Mann vor mir in die Generation, die damals schon die Zeitungshalter waren. Nur stand er jetzt mit seiner Zeitung – aus rechtlichen oder wegen des Datenschutzes darf ich den Titel nicht nennen, aber es handelte sich um eine der wenigen Tageszeitungen unserer Stadt, die den Namen der Stadt im Titel trägt – inmitten der dicht an dicht gedrängten Fahrgäste. Diesem menschlichen Wall um ihn herum vertraute er aber nicht so vollends, also hielt er sich mit einer Hand an der Mittelstange fest, während er mit der anderen versuchte, die Zeitung umzublättern. Zuerst dachte ich, er hätte sich über einen Artikel oder über den Autor des Artikels so geärgert, dass er vor Wut die Zeitung zusammenknüllte. Ich wollte ihm schon Respekt zollen, das wäre doch mal was anderes als die Hate-Leserbriefe, die man hin und wieder bekommt. Aber nein, es war nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen Seite. Es folgten noch einige dieser verstörenden Aktionen und er konnte erfolgreich die Zeitung weiterlesen.
Die Hartnäckigkeit und Erfindungsgabe bei einer so profanen Tätigkeit, wie die Zeitung umzublättern, ließ mich kurzfristig mit den Gedanken spielen, ob es nicht besser wäre, um diesen Menschen auf dem Weg zu meiner Notfallrettung einen Bogen zu machen. Eigensicherung gehört schließlich auch zur Hilfe für andere Menschen. Mein potenzielles kollabiertes Opfer erlebte inzwischen den nächsten Schock. Eine junge Frau, nur 30, 40 Zentimeter mit dem Rücken zu ihr stehend, verlor bei einem Ruck das Gleichgewicht und kippte leicht nach hinten, was die Dame mit einem heftigen Stoss nach vorn beantwortete.
Meine Notfallrettung? Sie fiel ins Wasser. Der Zug fuhr in die Endhaltestelle, mein Opfer krähte ein paar Mal: Ich fahre nie wieder mit der U-Bahn, stieg mit allen anderen aus und wurde nie wieder gesehen. So kann es gehen, wenn einer morgens um halb acht mit der U-Bahn fährt.