Nein, Ebenezer Scrooge bin ich wahrlich nicht. Da bin ich so weit entfernt, wie man sich das nur vorstellen kann. Weder Menschenverachtung noch Geiz sind meine Eigenschaften. Es werden also nicht die drei Geister der vergangenen, der heutigen und der zukünftigen Weihnacht an meine Tür klopfen. Was mich allerdings mit der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens verbindet, ist die Demut, die Einsicht in das Glück, das ich in meinem Leben mit allen meinen Familienangehörigen, Freunden und Bekannten habe. In der Weihnachtszeit wird mir das besonders bewusst, warum auch immer. Vielleicht haben mich ja doch die Weihnachtsgeister besucht, ich habe es nur nicht bewusst wahrgenommen. Wer weiß, Weihnachtszeit ist magische Zeit – wenn man sich darauf einlässt.
Ich spreche gern Menschen an. Einfach nur so. Die Welt ist traurig genug, da darf man ruhig etwas Freundlichkeit hineinbringen. In einem Supermarkt beobachtete ich vor Kurzem eine reichlich genervte Verkäuferin an der Fleischtheke. Eine Kundin war mit allem unzufrieden, mäkelte nur herum und kaufte am Ende nichts. Der Ärger über diese Kundin waren der Verkäuferin ins Gesicht gemeißelt. Ich wollte 100 Gramm Wurst haben. Die Verkäuferin nahm ein Messer von den Ausmaßen eines Säbels eines mittelalterlichen Ulanen, holte aus und schnitt genau 100 Gramm von der großen Wurst ab. „Wahnsinn“, bemerkte ich, „bei mir wären das jetzt 70 oder 130 Gramm geworden“. Im Gesicht der Verkäuferin ging die Sonne auf, sie antwortete freundlich und beriet mich ausführlich. Ich beobachtete sie noch einen Moment aus der Ferne. Die Freundlichkeit hielt an, auch die Kunden nach uns profitierten von meinem kleinen Lob, das tatsächlich so gemeint war, wie ich es sagte.
Wer aber nun ist Axel? Ich fuhr heute in einem großen Elektronik-Kaufhaus mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Während ich den Fahrstuhl in Richtung Kasse verließ, rollte ein Mann um die sechzig in seinem Rollstuhl in meine Richtung. Meiner Gewohnheit folgend, erklärte ich ihm, ich hätte den Fahrstuhl extra wegen ihn heruntergefahren. Wir lächelten uns an und gingen beziehungsweise rollten unserer Wege.
Wie erstaunt war ich, als er einige Zeit später an einer Ampel neben mir in seinem Rollstuhl saß.
„Ist ja witzig“, begrüßte ich ihn. „Wir haben uns gerade am Fahrstuhl getroffen.“
„Weeß ick doch. Du hast mir doch jrade den Fahrstuhl runterjeholt.“
Wir kamen ins Gespräch.
„Is ja janz schön voll heute“, bemerkte er.
„Sind halt schon viele Touris in der Stadt.“
„Ne, jlob ick nich. Is wohl wejen Weihnachten.“
Irgendwie erwähnte ich, dass ich häufig für Zeitschriften der Behindertenhilfe schreibe. Damit habe er nichts am Hut und habe keine Ahnung von so etwas. Er habe Diabetes zwei. Ein Unterschenkel sei ihm bereits amputiert worden, sehen kann er auch kaum noch etwas.
„Sacht mir der Chefarzt in der Augenklinik doch, dass ick blind werden kann. Aber der Oberarzt, Ober sacht ja schon, dass er so irjendwie über alle steht, also och wat zu sachen hat, also der sacht wieder, det kann ewig dauern, bis ick blind werde.“
„Na ja“, wende ich ein, „so ein Arzt muss sich absichern. Sonst wirfst Du ihm vor, er hat Dich nicht auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht“. Nachdem mein neuer Freund mich permanent duzt, bin ich ebenfalls zum Du übergegangen.
„Hast Du denn wenigstens eine Familie oder jemand, der da ist?“
„Ick hab ne Freundin“, antwortet er und ergänzt mit einem verschmitzten Lächeln: „Die ist jünger als ick.“
Bevor wir uns verabschieden, frage ich ihn nach seinem Namen. Er heißt Axel und im Übrigen hieß sein bester Freund einmal Kurt. „Der bist Du aber nicht, oder?“ Da kann ich ihn vollständig beruhigen, wir haben uns tatsächlich eben erst kennengelernt. Da der beste Freund offensichtlich nicht mehr der beste Freund ist, mag ich nicht nach den Gründen fragen.
Nach gefühlten vielen Stunden verabschieden wir uns nach etwa zehn Minuten und gehen unserer Wege. Wir werden uns wahrscheinlich nicht wiedersehen, das ist auch nicht nötig. Wir haben eine kurze Zeit miteinander verbracht, haben etwas über den anderen erfahren. Unser Gespräch hätte zu jeder Jahreszeit so stattfinden können, jetzt aber ist Weihnachtszeit. Da sollten wir besonders offen sein für die Menschen links und rechts neben uns. Ich habe zehn Minuten inmitten von dahineilenden und hektisch wirkenden Menschen mit einem überaus sympathischen Menschen verbracht. Inmitten dieser hin- und her hetzenden Geschenke-Einkäufer waren wir der ruhende Pol. Der gewandelte Ebenezer Scrooge am Ende der Weihnachtsgeschichte hätte seine helle Freude daran.
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